Einzelhandel: Was kommt nach Omni-Channel?

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Nichts ist so konstant wie der Wandel – für den Einzelhandel keine Binsenweisheit, sondern harte Realität. Herkömmliche Omni-Channel-Strategien allein reichen nicht mehr aus. Zusätzlich ist vielmehr kanalübergreifendes (Stamm)Datenmanagement gefragt.

Omni-Channel war jahrelang das beherrschende Thema auf Konferenzen, in Expertenvorträgen und Medienkommentaren zum Einzelhandel. Verkauf, Vermarktung und Vertragserfüllung über verschiedene Kanäle hinweg wurde zum Heiligen Gral der Branche – auch wenn viele Einzelhändler ihre hochgesteckten Ziele nicht erreichten. Das liegt jedoch nicht daran, dass die getroffenen Maßnahmen nur noch etwas mehr Zeit brauchen, bis sie Erfolge hervorbringen. Das Problem sitzt vielmehr tiefer: Denn vielen Einzelhändlern ist es nicht gelungen, ein kanalübergreifendes und -unabhängiges Management der Bewegungs- und Stammdaten ihrer Kunden zu managen und zu analysieren.

Konzept und Ziel des Omni-Channel wurden deshalb so berühmt und beliebt, weil Silos und Medienbrüche zwischen getrennten Kanälen übergreifende Prozesse und Erfahrungen bei Suche, Kauf, Upgrade, Lieferung und Rückgabe be- und verhinderten. Käufer konnten nicht immer auf den Kanal ihrer Wahl zugreifen, ob es sich dabei um ein Telefongespräch mit dem Kundenservice, einen Besuch vor Ort im Geschäft oder einen Chat auf der Webseite handelte.

Um diesen Missstand zu beheben, schufen Einzelhändler verschiedene Eintrittspunkte, denn der Kunde hat immer Recht und verdient die Chance, seinen bevorzugten Kanal zu wählen. Doch es stellte sich insbesondere in den vergangenen beiden Jahren heraus, dass dieser Ansatz nicht ausreichte, weil die Unternehmen ihn nicht konsequent bis auf die Datenebene hinunter angewandt haben. Mit anderen Worten: Die Silos blieben unterhalb der Eintrittspunkte der Kunden in die verschiedenen Kanäle weiter bestehen.

Bild: Erich Westendarp @ Pixabay

Geschwindigkeit ist alles

Der Zeitfaktor ist heute im Einzelhandel von entscheidender Bedeutung. Wie so vieles andere hat uns auch das die Pandemie gelehrt. Mit Hilfe digitaler Technologien haben viele Unternehmen die Erfahrung gemacht, ihr Geschäftsmodell schneller und nachhaltiger verändern zu können, als sie es für möglich gehalten hätten. Kunstgalerien verwandelten sich in virtuelle Ausstellungsräume, Theater transformierten sich zu Streaming-Mediendiensten und Restaurants wie Panera Bread entwickelten sich zu Lebensmittelläden und Lieferservices: Das Unternehmen hat es in der Tat geschafft, anstatt Truthahn-Sandwiches mit Salat und Tomaten deren Zutaten einzeln als Lebensmittel zu verkaufen. So wurde Panera Grocery geboren. Das Unternehmen ist heute Restaurant- und Lebensmittelkette in einem oder anders ausgedrückt: ein Einzelhändler mit mehreren Kanälen.

Mit den digitalen Möglichkeiten für die Unternehmen stiegen natürlich auch die Erwartungen der Kunden: Speziell die Lieferqualität und -geschwindigkeit haben sich während der Pandemie als der bestimmende Faktor herausgestellt, der eine Marke aufwerten und genauso gut zerstören kann. Dies umso mehr, je häufiger ehemals stationäre Einzelhändler dieses Feld für sich entdeckt haben.

Dreh- und Angelpunkt sind die Daten

Handlungsfähigkeit in der Lieferkette ist im Einzelhandel heute unabdingbare Voraussetzung für konsistente Erfahrungen in allen Kanälen. Handlungsfähigkeit und konsistente Erfahrungen hängen aber insbesondere von den Daten ab und davon, wie Einzelhändler diese sammeln, kuratieren, managen und teilen. Nur wenn ihnen das kanalübergreifend und -unabhängig gelingt, können Einzelhändler die Nähe zu ihren Kunden vertiefen, zum Beispiel durch bessere Kaufempfehlungen, eine genauere Kundensegmentierung und gezieltere Marketingkampagnen per E-Mail.

Allerdings können sie sich bei der Datenanalyse nicht länger auf bisherige Muster und Erfahrungswerte verlassen, um das zukünftige Verhalten der Käufer vorherzusagen. Denn die Veränderungen in den vergangenen zwei Jahre haben diese Muster aufgelöst, während sich neue und gleichzeitig verlässliche noch nicht herausgebildet haben und wohl auch nicht mehr herausbilden werden. Aus diesem Grund ist die Fähigkeit, Daten in Echtzeit zu analysieren, wichtiger denn je: Nur so können Einzelhändler schnell genug auf unvorhergesehene Änderungen reagieren, ohne Kunden zu enttäuschen und im schlimmsten Fall sogar zu verlieren, sondern im Gegenteil um sie zufriedenzustellen und ihre Erwartungen sogar zu übertreffen.

Die Erfolgsformel besteht heute aus einer Kombination von Datenanalysen und bereichs- und nischenspezifischem Fachwissen. Die Technologie-Ethnografin Tricia Wang merkt in diesem Zusammenhang an, dass viele Unternehmen zum Thema Kundennähe deshalb nur Lippenbekenntnisse abgeben, weil sie von der Last ihres überbordenden Berichtswesens erdrückt werden und zu viel Aufmerksamkeit rein quantitativen Daten schenken, qualitativen und „reichhaltigen“ Daten hingegen zu wenig. Außerdem machen sie nicht genügend Gebrauch von neuen Ansätzen und Tools wie künstlicher Intelligenz, die ihren Nutzen bereits unter Beweis gestellt haben und dem Einzelhandel helfen können.

Diese Hilfe ist umso notwendiger, als in Deutschland und weltweit ein Mangel an Datenwissenschaftlern herrscht. In einem sich weiter globalisierenden Wettbewerbsumfeld können Einzelhändler nur mithilfe solcher intelligenten Werkzeuge herausfinden, ob und welche Bewegungen gegen herrschende Trends arbeiten und warum sie das tun, und auf Basis dieser Erkenntnisse ihre Strategien für Bestands- und Neukunden, für bestehende und neue Märkte oder neue Kanäle wie das Metaverse anpassen.

Datenqualität: Heute trifft Gestern

Unabhängig von dem Mangel an geeignetem Personal aber fehlt im Einzelhandel leider weiterhin die wichtigste Voraussetzung für Analysen und Entscheidungen in Echtzeit: die dafür notwendige Datenverfügbarkeit und vor allem -qualität. Weil die Silos auf der Datenebene weiter bestehen, haben die Unternehmen weder eine umfassende noch eine korrekte Sicht auf ihre Kunden und deren Verhalten. Vielmehr besteht jeder Kunde nicht nur einmal, sondern so viele Male, wie der Einzelhändler Kanäle bedient. Dabei kommt es unweigerlich zu Fehlern, so dass oftmals gar nicht klar ist, dass es sich bei den verschiedenen Datensätzen um ein und denselben Kunden handelt.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Stamm- und Bewegungsdaten in den Silos in unterschiedlichen Formaten vorliegen, was ihre kanalübergreifende Nutzung und Analyse erschwert bis unmöglich macht. Das Ziel datengesteuerter Einzelhandelsunternehmen bleibt daher so lange außer Reichweite, bis diese eine harmonisierte Datenschicht implementieren, losgelöst von den darunter liegenden Applikationen, Systemen und Datenspeichern. Denn erst auf dieser Schicht ist es möglich, kanalunabhängig und -übergreifend Datenformate zu harmonisieren, Kundenstammdaten von Fehlern zu bereinigen und anzureichern, um sie zusammen mit ihren harmonisierten Bewegungsdaten aus den verschiedenen Kanälen in Echtzeit zu analysieren. Erst dadurch erhalten Einzelhändler eine umfassende, korrekte und damit aussagekräftige Sicht auf ihre Kunden – unabdingbare Voraussetzung dafür, fundierte Entscheidungen zu treffen, die der aktuellen Marktsituation und dem aktuellen Käuferverhalten entsprechen.

Krise heißt Chance durch Unterscheidung

Die Pandemie hat den Einzelhandel für immer verändert. Immer schnellere und gleichzeitig immer weniger vorhersagbare Änderungen im Käuferverhalten haben die Prioritäten verschoben: weg vom alleinigen Fokus auf das Thema Omni-Channel hin Datenmanagement und -analyse unabhängig von den Kanälen.

Dabei besteht bei genauerer Betrachtung kein Widerspruch zwischen den beiden Themen und Zielen. Vielmehr werden Einzelhändler mit ihrer Omni-Channel-Strategie erst dann wirklich erfolgreich sein, wenn sie losgelöst von ihren einzelnen Applikationen und Speichersystemen dank Management, Optimierung und Analyse von Stamm- und Bewegungsdaten in Echtzeit mit der Geschwindigkeit Schritt halten, mit der sich ihre Kunden in den verschiedenen Kanälen bewegen. Diese Fähigkeit – Hauptmerkmal eines datengesteuerten Einzelhandelsunternehmens – wird dementsprechend das wichtigste Unterscheidungsmerkmal im Wettbewerb sein, ganz im eigentlichen Sinn des Wortes Krise: Denn für die alten Griechen war sie nicht nur eine Zeit der Herausforderungen, sondern meinte auch und vor allem die Chance, Entscheidungen zu fällen, die den wesentlichen Unterschied machen, um die Krise erfolgreich zu bewältigen.