Für die öffentliche Hand ist sie bereits Realität – die Pflicht zur digitalen Barrierefreiheit. Nicht zuletzt die EU-Richtlinie 2016/2102 und nationale Vorschriften wie das Behindertengleichstellungsgesetz oder die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung verpflichten Behörden, ihre Webseiten und Applikationen so zu gestalten, dass „Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang unter anderem zu Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen“ erhalten.
Diese Vorgaben sind aber auch schon fast Realität für andere Branchen. So sind die Vorgaben der Richtlinie (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen ab 2025 für alle Unternehmen bindend. Doch was nach Pflicht klingt, ist zugleich eine Chance. Alleine in der EU leben über 80 Millionen Menschen mit einer Behinderung – Tendenz schon aus demographischen Gründen steigend. Wer diese Zielgruppe schon jetzt im Auge behält, schafft sich nicht nur in ein paar Jahren einen Compliance-Vorsprung, er steigert schon jetzt seine Kundenbindung. Denn eine gute User Experience hilft nicht nur Menschen mit Einschränkungen – sie kommt allen Anwendern zugute.
Wege zur Barrierefreiheit
Doch der Weg dahin ist nicht leicht. Der Vielfalt an Behinderungen entspricht die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten und Hilfsmitteln. Zwar müssen Usability-Tests nicht jeden einzelnen Screenreader, Browser und jedes Gerät einbeziehen, aber wer den nationalen und internationalen „Accessibility Standards“ folgt hat schon einen sehr großen Schritt in Richtung Barrierefreiheit getan.
Tests, die sich nur auf automatisierte Tools verlassen, greifen fast immer zu kurz. Dies wird erst richtig sichtbar, wenn zusätzlich erfahrene Tester die Checks übernehmen. Noch besser: wer selbst mit einer Behinderung lebt oder weiß, was es heißt, nicht selbstverständlich alles zu können, der findet schnell die Lücken im System. Die Tester im Eficode User Experience-Team erfüllen nicht nur diese Vorgabe, sie kennen auch die klassischen Schwachstellen sehr genau.
Tools und Tasks
Gängige Fehler gibt es viele: nicht barrierefreie PDFs, für Screen Reader nicht erkennbare Links oder visuelle Sicherheitsfeatures wie CAPTCHA, Bilder ohne Alternativ-Text, Formulare ohne Beschriftung, falsche Überschriftenstruktur oder Farbkontraste. Viele davon werden mit automatisierten Tools wie WAVE entdeckt. Andern Tools wie Web Developer untersuchen die Dokumentenstruktur auf ihre Logik, Klarheit und ihre hierarchische Organisation. Doch selbst wenn das alles passt, gibt es noch manuelle Jobs: ist beispielsweise die Website auch nur über Keyboard manövrierbar?
Vor allem Dropdown- oder Flyout-Menüs können oft nur über die Maus bedient werden. Hier bewährt sich die Mischung aus sehenden und sehbehinderten Testern besonders: wer sieht, weiß, ob die Beschreibung eines Bildes auch dessen Inhalt trifft. Aber ob etwa ein Pop-up auch mit 400 Prozent Vergrößerung noch den gesamten Inhalt zeigt oder ein Bild statt mit Alternativ-Text nur mit „braucht Beschreibung“ hinterlegt ist, erkennt jemand mit Seheinschränkungen schneller.
Die Tester haben hierfür umfassende Checklisten, doch selbst sie sind immer wieder überrascht über die Vielfalt an Hürden und die Variationen in der User Experience. Denn Barrierefreiheit ist ein Prozess, der trotz Vorgaben und Plänen die Teams vor immer neue Aufgaben stellt.
Barrierefreiheit lernen
Leider sieht es bei der Implementierung der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG-2) Vorgaben nicht so gut aus. Von den Top-100-Websites weltweit waren 43 Prozent der Welt für Menschen mit Behinderungen vollständig unzugänglich. Dieses traurige Bild zeigt eine Studie von Diamond aus dem Jahr 2019.
Bei Banken und Versicherungen steht Barrierefreiheit schon seit geraumer Zeit zunehmend im Fokus. Dies zeigen Angebote wie telefonische Überweisungsdienste, interaktive Sprachausgabe oder virtuelle Filialen. Omni-Channel-Benutzeroberflächen bieten über alle Kanäle hinweg ein identisches Benutzererlebnis, biometrische Technologien wie Stimmerkennung sollten barrierefreie Authentifizierung ermöglichen. Allerdings erfordert es ziemliche Investitionen, die vielen Online-Dienste im Finance-Bereich im Nachhinein barrierefrei zu machen – Geld, das auch in die Schulung der entsprechenden Teams gesteckt werden könnte.
Denn letztlich ist Barrierefreiheit, die von Anfang an berücksichtigt wird, eine Chance, die gesamte User Experience in neuem Licht zu betrachten. Von klaren Strukturen profitieren alle Anwender – ebenso wie von verständlicher Sprache, von Audio-Inhalten in gelungener Kombination mit Bildern, von gut gesetzten Farben oder Überschriften, den einen Rückbezug auf den Inhalt zulassen. Vor allem im Finance-Bereich entstehen ständig neue digitale Angebote – ein barrierefreies Mindset bei Designern, Entwicklern, Textern und Content-Erstellern lohnt sich schnell. Und: Wer barrierefrei entwickelt, macht bessere Websites für alle Benutzer. Die Kunden werden es danken.