Seit der COVID-19-Pandemie hat sich die Shopping-Erfahrung komplett verändert. Momentan geht es nicht mehr darum eine große Auswahl, Komfort oder das beste Produkt zum günstigsten Preis zu finden; vielmehr werden Produkte in nur zwei Kategorien eingeteilt: essenziell oder nicht essenziell. Einige von uns gehen einfach zum nächstgelegenen Supermarkt und versuchen die letzte Packung Cornflakes oder Mehl zu ergattern.
Andere hingegen versuchen ihr Glück online oder über Smartphone-Apps. Vor der Pandemie erledigten etwa 90 Prozent der Verbraucher ihre Einkäufe im Laden. Mittlerweile hat sich das Blatt komplett gewendet und fast 90 Prozent der Kunden shoppen nun online.
Die Pandemie hat in fast allen Branchen zu Disruptionen geführt – im Einzelhandel sind die Auswirkungen aber zweifelsohne am größten und vielfältigsten. Auf der einen Seite erleben Anbieter für Verbrauchsgüter aufgrund von Panikkäufen und dem Hamstern von Lebensmitteln und Haushaltswaren ein starkes Umsatzwachstum. Auf der anderen Seite verlieren Einzelhändler der großen Einkaufsstraßen und -zentren, die Mode, Bekleidung und Luxusproduktkategorien Kunden. Auch die Logistikbranche durchläuft einen Wandel: Beispielsweise liefert das Postwesen seit Beginn des Lockdowns mehr Pakete als Briefe aus und Lebensmittellieferanten sowie Reinigungen schöpfen ihre logistische Infrastruktur aus, um Lebensmittel und lebensnotwendige Güter zu transportieren.
Der Stärkste überlebt
Unabhängig von der Art der Auswirkungen konzentriert sich heute jedes Einzelhandelsunternehmen auf das Überleben in diesen unsicheren Zeiten und maximiert die kurzfristige finanzielle und geschäftliche Belastbarkeit. Business Continuity-Pläne, die Sicherheit der Mitarbeiter, der Erhalt des Bargelds und Hilfe für die Gesellschaft sind dabei die Bereiche mit der höchsten Priorität.
Einzelhändler bieten hohe Rabatte an, um ihre Ware und Lagerbestände besser und zügiger zu verkaufen. Viele kleinere Läden führen schnellstmöglich ein E-Commerce-Modell ein und Lebensmittelproduzenten – vom Landwirt bis zum Käsehersteller – suchen nach Möglichkeiten, direkt an den Endverbraucher zu verkaufen. Auch traditionelle Einzelhändler, wie etwa Morrisons, gehen mit der Zeit und kooperieren mit dem Lebensmittellieferanten Deliveroo, um ihren Kunden Lebensmittel nach Hause zu liefern. Darüber hinaus vereinfachen Einzelhändler ihr Produktsortiment, um sicherzustellen, dass besonders gefragte Artikel schnell und reibungslos wieder aufgefüllt werden. In Großbritannien startete außerdem vor Kurzem Streetify. Die Einkaufsplattform bietet Einzelhändlern, die ihre Geschäfte schließen mussten, virtuelle Schaufenster an.
Um die aktuellen Anforderungen und Wünsche der Verbraucher zu adressieren, arbeiten viele Unternehmen darüber hinaus an Produktinnovationen. Der schottische Craft Beer-Hersteller Brewdog produziert beispielsweise Handdesinfektionsmittel, um dem akuten Mangel am Markt entgegenzuwirken. Dyson – eigentlich bekannt als Hersteller hochwertiger Haushaltsgeräte wie Staubsauger – fertigt Beatmungsgeräte, um das weltweite Defizit auszugleichen. All diese Maßnahmen sind nur kurzfristige Reaktionen, um im Markt bestehen zu können – doch was kommt in den kommenden sechs Monaten auf die Unternehmen zu? Welche strategischen Entscheidungen oder Aktionen sollten sie treffen oder durchführen, um zu wachsen?
Umdenken
Die durch die Pandemie ins Rollen gebrachten Veränderungen könnten sich langfristig etablieren. Denn immer mehr Menschen lernen die kostbaren Momente, die sie während des Lockdowns erleben, zu schätzen. Dazu gehören mehr Zeit für die Familie und Hobbies, die Vermeidung von Staus oder einfach das Leben etwas zu entschleunigen. Verbraucher könnten sich daran gewöhnen, ihre Lebensmittel online zu bestellen, selbst zu kochen, anstatt auszugehen oder über eine App Kleidung zu shoppen. Die alte Ordnung der Dinge wird vielleicht nie wiederkehren.
In den kommenden Monaten müssen sich Einzelhandels- und Logistikunternehmen neu orientieren, um das „neue Normal“ voranzutreiben. Für viele könnte dies bedeuten, dass sie ihre digitale Agenda vorantreiben oder sogar eine vollständige digitale Transformation durchlaufen müssen. Einzelhandelsorganisationen müssen darüber hinaus ihre Geschäfte umstrukturieren, neue digitale Fähigkeiten aufbauen und ihre Investitionsausgaben (Capital Expenditure / CAPEX) reduzieren, um agil zu reagieren. Außerdem ist es wichtig, in Maßnahmen zu investieren, die unmittelbar oder kurzfristig Mehrwert schaffen, anstatt sich auf groß angelegte mehrjährige Projekte zu konzentrieren.
Eine neue Zukunft definieren
Da die Vision über sechs Monate hinausgeht, müssen die Unternehmen ihre Zukunft definieren und völlig neue Geschäftsmodelle ins Auge fassen sowie innovative, transformative Wege finden. Hier sind einige umfassende Veränderungen, die voraussichtlich auf den Einzelhandels- und Logistiksektor zukommen werden:
Engere Zusammenarbeit
Unternehmen müssen neue und innovative Geschäftsmodelle finden, die die sich verändernden Anforderungen der Verbraucher adressieren – dadurch entstehen zahlreiche Möglichkeiten für Kollaborationen. Ein Restaurant kooperiert beispielsweise mit einem Lebensmittelgeschäft. Gemeinsam bieten sie Koch-Kits für Gäste an, die beliebte Delikatessen aus dem Restaurant bequem zu Hause genießen möchten.
Risikoreduzierung durch Diversifizierung der Lieferkette
Lieferketten sind auch weiterhin global aufgestellt, dennoch werden sie künftig diversifizierter sein als bisher. Bisher bevorzugten Einzelhandelsunternehmen traditionell Lieferanten, die gleichbleibende Qualität zum niedrigsten Preis liefern – nun könnten sie zusätzliche Parameter in Betracht ziehen. Die COVID-19-Pandemie hat die Gefahr einer zu starken Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten oder einer einzigen Region aufgezeigt. Daher ziehen Firmen zunehmend die Gründung eines Marktplatzes in Betracht, der es ihnen ermöglicht, auf mehr Quellen zurückzugreifen und gleichzeitig Schwachpunkte und Risiken zu minimieren.
Potenziale der Technologie ausschöpfen
Einer der größten Trends, der sich aus der Pandemie ergibt, ist ein großes Wachstum für die Implementierung von Technologien in traditionell technologieschwachen Segmenten. Zum ersten Mal wurde die Shanghai Fashion Week vollständig digitalisiert, ebenso wie die Moscow Fashion Week. Beide Veranstaltungen waren erfolgreich und erreichten eine Rekordzahl von Onlinezuschauern. Ein gutes Beispiel für den Einzelhandel: Die Händler müssen ein herausragendes, differenziertes digitales Kundenerlebnis schaffen – dazu zählen auch kontaktlose Transaktionen und Selbstbedienungskassen. Die Logistikbranche setzt zunehmend auf einen „Machine first“-Ansatz, der die Abhängigkeit von Menschen stark reduziert, insbesondere bei alltäglichen, sich wiederholenden Aufgaben.
Daten intelligent nutzen
Die COVID-19-Pandemie traf die meisten Einzelhändler unvorbereitet und sie hatten nicht genug Zeit, ihre Geschäfte entsprechend vorzubereiten und zu unterstützen. Künftig sollten Organisationen mehr Gewicht auf das Sammeln, Studieren und Analysieren von Daten legen – und im Anschluss sicherstellen, dass die Daten effektiv zur Planung ihrer Geschäfte und zur Unterstützung der Entscheidungsfindung genutzt werden.
Die gegenwärtige Pandemie wird hoffentlich nur vorübergehend sein, aber ihre Auswirkungen werden noch lange Zeit zu spüren sein. Einige der daraus resultierenden Verhaltensänderungen, sei es der vermehrte Einsatz von Handdesinfektionsmitteln oder Social Distancing, könnten zu einem dauerhaften kulturellen Fixpunkt werden. Für Einzelhändler ist es jetzt an der Zeit, sich anzupassen und zu weiter zu entwickeln.